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Niemals abstumpfen


Carsten Baumann, Leiter der ökumenisch geführten Bahnhofsmission Foto: Rolf Oeser

Manche nennen ihn „Papa“. Drei Jahre dauerte es, bis einige der Menschen rings um den Frankfurter Hauptbahnhof begannen, ihn so zu rufen. Drinnen in der Bahnhofsmission am Gleis 1a des Frankfurter Hauptbahnhofs fällt Carsten Baumann sofort auf zwischen den Mitarbeiter*innen in blauen Westen mit dem Logo der Bahnhofsmission. Er trägt eine runde rote Brille, Hemd mit Manschettenknöpfen, karierte Hose, Lederschuhe. „Geschniegelt“, sagt Baumann und grinst. So steht der Leiter der Bahnhofsmission auch draußen vor der Tür zwischen den Klient*innen, schraubt schon mal Glühbirnen ein, schaut nach der kaputten Toilette, klebt Pflaster auf Wunden, hält Vorträge vor Polizistinnen und Bankern.

„Als Typus passte ich nie in die Soziale Arbeit“, sagt der 53-Jährige. Aber er ist einer, der sich kümmert, und zwar sofort. Für den psychisch Erkrankten, den ein Passant auf dem Rücken von den Straßenbahngleisen in die Bahnhofsmission getragen hatte, rief er sofort den Notarzt, um den Mann in einer Fachklinik unterbringen zu lassen. Mit der Bemerkung, da könne er ja gleich das ganze Bahnhofsviertel mitnehmen, fuhr der Notarzt wieder davon. Baumann erinnert sich noch gut, wie er kurz darauf den Mann, dessen Herz stillstand, vergeblich versuchte, wiederzubeleben. „Ich sehe mich noch heute hilflos neben ihm sitzen“. Seitdem hängt ein Defibrillator in der Bahnhofsmission, Baumann besprach nochmal eindringlich mit Polizei und Rettungsdienst, wie sie mit dem Patienten umgegangen waren. Es war zwar gelungen, ihn wiederzubeleben, aber er hatte schwere Schäden davongetragen.

Nicht nur Begegnungen wie diese, die sich für immer einbrennen, erlebt der evangelische Diakon. Vielmehr sind es „1000 kleine Geschichten“. Daheim, an der beschaulichen Nahe, wo er mit seiner Frau und drei Kindern lebt, predigt Baumann alle zwei Monate im Gottesdienst – hautnah aus dem Leben erzählen kann er viel. „Eigentlich“, sagt Baumann und schenkt Kaffee ein, „bin ich ein Beständiger“. Nach seiner theologischen und sozialberuflichen Ausbildung blieb er 28 Jahre bei der Stiftung Kreuznacher Diakonie, leitete ein Heim mit 150 Plätzen für Menschen mit Behinderung, koordinierte ein Zentrum mit 400 Personen. Ein anstehender Strukturwandel bewog ihn zu wechseln. Baumann ist froh mit der Entscheidung, in der Bahnhofsmission im Herzen der Mainmetropole ist er genau am richtigen Platz. 2016 war er der erste Mitarbeiter des Diakonischen Werkes, der die Leitung der Bahnhofsmission übernahm. Bereits seit 1910 steht die Bahnhofsmission für die älteste ökumenische Zusammenarbeit im sozialen Bereich in Frankfurt, seit 1910 arbeiten dort katholische und evangelische Christen zusammen.

So liegt es nahe, dass Carsten Baumann auch im gemeinsamen Filmbeitrag von Caritas und Diakonie zum Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt am Main zu sehen war. Wohnungslosigkeit ist das Thema des Filmes und es ist auch seines, denn „die Armut, die sich hier im Bahnhofsviertel konzentriert, ist schon sehr bemerkenswert“. Nicht abzustumpfen, sich an gewisse Dinge nicht zu gewöhnen, das schärft Baumann seinen ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen ein. Er führte in der Bahnhofsmission kostenlose Toiletten für jedermann ein und warme Duschen ohne Zeitbegrenzung.

Ganz hinten durch geht es zum Notapartment für Frauen mit Gewalterfahrung. Es ist oft belegt. Baumann möchte die Bahnhofsmission erweitern und modernisieren. Das geplante Hygienecenter für Wohnungslose am Frankfurter Hauptbahnhof ist das große Zukunftsprojekt. 45 Ehrenamtliche unterstützen die 17 Hauptamtlichen, die Tag und Nacht Dienst in der Frankfurter Bahnhofsmission leisten. Das ehrenamtliche Team erneuerte sich während der Corona-Pandemie, viele Ältere kamen nicht mehr, Berufstätige, die in Kurzarbeit waren, wie Flugbegleiter*innen oder Beschäftigte aus der Gastronomie und Hotellerie verstärken jetzt das Team.

124.290 Kontakte zählte die Bahnhofsmission 2020. Die einst 9000 jährlichen Mobilitätshilfen, etwa beim Fahrkartenkauf oder beim Umsteigen, gingen während der Pandemie komplett zurück, Aufrechterhalten wurde hingegen mit einem pandemietauglichen Konzept „Kids on Tour“ – die Begleitung von Kindern, die bei Zugfahrten von Frankfurt aus von Ehrenamtlichen im Fernverkehr begleitet werden.

Carsten Baumann könnte noch lange weitererzählen. Er ist fasziniert von der „Freiheit zu gestalten“, die mit seiner Arbeit verbunden ist. Beispielsweise erfolgreich Netzwerke zu den verschiedensten Institutionen in der Stadt bis hin zu den Eintracht-Fans zu knüpfen. Draußen beim Eingang an der Mannheimer Straße warten zwei Polizist*innen mit einer jungen Frau, einer trägt eine bis oben gefüllte Plastiktüte mit ihren Sachen im Arm. Baumann geht sofort zu ihnen. Eine neue Geschichte beginnt in der Frankfurter Bahnhofsmission, die 24 Stunden am Tag 365 Tage im Jahr geöffnet ist. Jede kann kommen, jeder erhält Hilfe.

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