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22. Nov 23 I Armut ist anstrengend


Rund 250 Interessierte tauschten sich zum Thema Armut und dem Umgang damit aus. Foto: Rolf Oeser

Konferenz setzt starke Impulse gegen die Armut in Frankfurt und Offenbach

„Armut ist auf jeden Fall mal keine Schuld“, sagt Gudrun Born. Die 92-Jährige Frankfurterin nahm am Mittwoch an der Konferenz „Armut erkennen – Ausgrenzung verhindern und Chancen eröffnen“ von Evangelischer Kirche in Frankfurt und Offenbach und Diakonie Hessen in der Evangelischen Akademie Frankfurt teil. Rund 250 Teilnehmer:innen waren einen ganzen Tag lang dabei. Diskutierten in neun verschiedenen Foren mit Expert:innen über Gesichter der Armut – sei es zum Thema „Aufwachsen in Armut“, „Wohnen für alle!“ oder „Armut ist eine Frau“. Gudrun Born beteiligte sich bei „Armut im Alter“, seit Jahren weist sie aus eigener Erfahrung auf die Armutsfalle hin, in die viele pflegende Angehörige geraten.

Was wollen die Betroffenen

An den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert soll sich die Soziale Arbeit ausrichten, sollen Konzepte geschrieben und Strategien entwickelt werden – dies war eine der Botschaften der Konferenz, für die der Frankfurter Oberbürgermeister Mike Josef und die Offenbacher Bürgermeisterin Sabine Groß Impulsvorträge hielten, und an der auch die Frankfurter Sozialdezernentin Elke Voitl teilnahm.

Armut ist anstrengend

Über neue Ansätze gegen Armut berichtete Professor Christian Kolbe, der an der Frankfurt University of Applied Sciences Kommunale Sozialpolitik und Armutsprävention lehrt. In seinem Vortrag für die Armutskonferenz warf Kolbe die Frage auf „Konsequent betroffenenorientiert - aber wie?“ Genauso wie es unterschiedliche Wege in die Armut gibt, gehen Menschen auch unterschiedlich damit um. Manche bringen Eigen-Sinn und Eigeninitiative auf, andere lähmen die vielen negativen Zuschreibungen eines Lebens in Armut, sie reagieren mit Scham und geißeln sich dafür, in diese Situation gekommen zu sein oder wollen „leise und unsichtbar“ sein. „Es klappt nicht zu sagen, es gibt diese Armut, also gibt es diese Hilfe“, sagte Kolbe im vollbesetzten großen Saal der Evangelischen Akademie. Stattdessen müsse eine „bedingungslose soziale Infrastruktur“ den Betroffenen ihr Leben in ihrem Eigen-Sinn ermöglichen. „Armut ist ein gesellschaftspolitischer Skandal und keine individuelle Fehlleistung“, betonte Kolbe, „und Armut ist für Betroffene vor allem eins: anstrengend.“

Frankfurt ist stark armutsgefährdet

Konkrete Zahlen zur Armutsgefährdung in Frankfurt legten Nanine Delmas und Pia Bolz vom Frankfurter Jugend- und Sozialamt vor: So ist Frankfurt am Main 2022 mit einer Armutsgefährdungsquote von 23,2 Prozent nach Düsseldorf die am meisten betroffene deutsche Großstadt. Ende 2022 lebten rund 23.000 Kinder und Jugendliche unter 18 in Frankfurt in Armut, das ist beinahe jedes vierte Kind. Die Stadt Frankfurt schmiedet deshalb an einem breit aufgestellten Bündnis gegen Kinderarmut, sagte die Leiterin des Jugend- und Sozialamtes Nanine Delmas.

OB Mike Josef warnt davor, Menschen gegeneinander auszuspielen

Der Frankfurter Oberbürgermeister Mike Josef betonte angesichts dieser Situation: „Wir wollen alles tun, um Armut zu reduzieren“. Dies sei auch Bestandteil des Koalitionsvertrages der regierenden Parteien im Römer. Allerdings sei es angesichts knapper werdenden Geldes nicht leicht, in einer Stadt, die in den vergangenen Jahren „um die Größe Offenbachs“ gewachsen sei, die soziale Infrastruktur flächendeckend mitwachsen zu lassen. Um diejenigen am Rand in die Mitte zurückzuholen, seien niedrigschwellige Projekte wichtig. Der Oberbürgermeister warnte davor, „Menschen, die wenig zum Leben haben, gegen Menschen, die noch weniger haben, auszuspielen.“ Diese populistische Position einzunehmen sei leichter als Schulen zu bauen, bezahlbare Wohnungen zu errichten und für gerechte Löhne zu sorgen. Mike Josef bedankte sich „für die vielen Facetten“ der Konferenz. „Ich freue mich sehr über die Initiative wie wir uns der Entwicklung entgegenstellen können gemeinsam mit unseren Nachbarn und sozialen Trägern.“ Um zu verhindern, dass immer mehr Menschen in Armut abrutschen, müsse sich das Bewusstsein ändern.

Offenbach, die junge Stadt mit hoher Arbeitslosigkeit

Sabine Groß, die Offenbacher Bürgermeisterin und Kinder- und Jugenddezernentin, nannte Zahlen für Offenbach: Die Arbeitslosenquote in Offenbach liegt bei 9,0 Prozent, in Frankfurt liegt sie bei sechs Prozent und hessenweit bei 5,3 Prozent. Jeder und jede fünfte Beschäftigte in Offenbach habe keine Berufsausbildung. Offenbach sei nicht nur eine sehr junge Stadt, sondern werde wegen des hohen Zuzugs, unter anderem aus Frankfurt, als „Arrival City“ bezeichnet. Auch in Offenbach sei ein kommunaler Aktionsplan gegen Kinderarmut in Arbeit mit dem Ziel, Kinder und Eltern in Offenbach über verschiedene Lebensabschnitte hinweg zu begleiten.

Bewegende Berichte

Betroffene kamen in einem Video zu Wort, das zu Konferenzbeginn in allen neun Foren gezeigt wurde. Gülbeyaz Sahin, deren Arbeitsvertrag befristet ist, berichtete darin bewegend, wieviel ihr ihr Arbeitsplatz bedeutet. Bei der Fragerunde nach der Podiumsdiskussion meldete sich ein Mann, der sich in der Landesarmutskonferenz Baden-Württemberg engagiert, zu Wort: „Wir Betroffenen sind die wirklichen Experten“ betonte er. Und: „Ich hätte nie gedacht, dass wir in Deutschland wieder in so eine Schieflage kommen.“ Gerne sei er bereit, auch in Hessen eine Landesarmutskonferenz zu gründen, falls es diese noch nicht gäbe.

Sorgende Gemeinschaften in den Quartieren

Diakoniepfarrer Markus Eisele, Initiator der Konferenz, versprach „dass wir konsequent betroffenenorientiert arbeiten“. Um Menschen zu erreichen, die vielleicht wenig über Hilfsangebote wissen „müssen wir noch deutlich sichtbarer verlässlich vor Ort sein und alles, was wir bereits anbieten, noch mehr in Quartierszentren zusammenschließen. Wir wollen nicht nur Beratung, sondern auch Begegnung schaffen. Dafür brauchen wir die Infrastruktur, die kostet Geld, aber sie ist nötig. Und wir brauchen die Zivilgesellschaft, sogenannte caring communities, sorgende Gemeinschaften, damit Menschen nicht vereinsamen.“ Eisele appellierte an die Stadtplanung, „bei Neubauquartieren von Anfang an Orte mit zu planen, an denen sich Menschen begegnen können, denn nur so entsteht Hilfe“. Eisele sagte er hoffe, dass die einst vorgesehenen und inzwischen zurückgenommen drastischen sozialen Kürzungen im Bundeshaushalt wirklich nicht umgesetzt werden.

Elke Voitl verspricht Kulturwandel in den Behörden

Elke Voitl, Frankfurter Sozial- und Gesundheitsdezernentin, versprach einen „Kulturwandel“ in den Behörden: „Wir müssen den Blick auf Menschen, denen wir helfen, verändern.“ Und: „Wir dürfen nicht hinter Mauern sitzen und auf korrekt ausgefüllte Anträge warten.“ Vielmehr müsste eine „an den Bedarfen der Menschen konsequent ausgerichtete Sozialpolitik“ deren Eigen-Sinn beachten und „Angebote so schaffen, dass die Menschen sich nicht verbiegen müssen.“ Mehr Geld sei bei präventiven Hilfen nötig, seit Jahrzehnten seien die Zuwendungen nicht erhöht worden, „da suchen wir Lösungen“ versprach die Stadträtin.

Reichtum anders verteilen

Der evangelische Stadtdekan Holger Kamlah positioniert sich in einer Videobotschaft zur Konferenz klar und deutlich: „Gerade die, die im Schatten des Wohlstands leben, werden viel zu selten wahrgenommen. Sie benötigen eine Lobby: Wir müssen den vorhandenen Reichtum anders verteilen, unser Glaube fordert uns dazu auf.“

Es kam mir alles so nah, ich kenne das alles

Nach der siebenstündigen Konferenz, die kaum jemand vorzeitig verließ, stehen noch Teilnehmer:innen vor der Evangelischen Akademie auf dem Römerberg und diskutieren. Auch Gülbeyaz Sahin. Sie ist ebenso wie Gudrun Born und andere Betroffene in einem Video zu sehen, das eigens für die Konferenz erstellt wurde. „Es kam mir alles so nah, ich kenne das alles, es war so schön“, fasst Sahin die Konferenz zusammen. Und zugleich schaut sie voller Sorgen in die Zukunft. Im Sommer wird ihr geförderter Arbeitsvertrag auslaufen. Was dann kommt, weiß sie nicht.

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